Ängste können uns vor Leichtsinn bewahren und uns in Gefahrensituationen das Überleben sichern. Sie können uns aber auch lähmen und uns daran hindern, unser Potenzial voll zu entfalten. Gerade Hochleister stehen besonders im Dauerspannungsfeld zwischen produktiver Vorsicht und lähmender Angst. Wie aber gehen wir richtig mit Ängsten um und weisen sie in ihre Schranken, wenn sie anfangen, unser Leben oder unseren Erfolg zu stark zu bestimmen?

 

Angst – Schutzsystem, nicht Steuermann

Angst ist, ähnlich wie Stress, nicht per se schlecht. Unser Schöpfer hat uns mit diesem Warnsystem ausgestattet, das uns in Sekundenbruchteilen auf Bedrohungen aufmerksam macht. Ohne Angst wären unsere Vorfahren allzu oft unnötige Risiken eingegangen – und wir würden heute nicht über sie sprechen. Auch im modernen Alltag schützt uns Angst: in den Bergen, im Straßenverkehr, im Investment und Entscheidungsalltag sowie unzähligen weiteren Situationen.

Nicht nur für Hochleister, aber für sie in ganz besonders hohem Maße, ist entscheidend: Angst ist ein Signal, kein Steuermann! Sie darf uns informieren, aber nicht führen. Wer Angst zur inneren Autorität macht, delegiert Entscheidungen an sein Nervensystem – und reduziert damit seine Wirkungskraft.

 

Mut bedeutet nicht Angstfreiheit, sondern Handeln trotz Angst

Ein weit verbreiteter Irrtum lautet: „Mutige Menschen haben keine Angst.“ Unsinn. Mut heißt, die Angst wahrzunehmen, ihr in die Augen zu blicken und trotzdem das Richtige zu tun. Mut ist eine Verhaltensentscheidung, keine Gefühlsabwesenheit.

Für Führungskräfte ist diese Unterscheidung elementar. Wer Verantwortung trägt, wird Unsicherheit nie vollständig eliminieren. Mut entsteht, wenn wir mit klarem Blick und begründeter Vorsicht entschlossen handeln – nicht, wenn wir auf vollständige Sicherheit warten. Denn Letztere kommt selten.

 

Wenn Angst kippt: vom klaren Signal zum Energie-Raub

Angst erfüllt so lange ihre Aufgabe, bis sie eine Schwelle überschreitet. Dann verengt sie den Blick, verschiebt Risiken ins Monströse, blockiert Entscheidungen und frisst Lebensenergie. Hochleister erleben das oft in wiederkehrenden Mustern:

  • Perfektionismus als Vermeidungsstrategie: Endlose Schleifen, weil ein Ergebnis „noch nicht gut genug“ ist.
  • Entscheidungsaufschub: Mehr Analysen, mehr Daten, noch ein Meeting – statt einer klaren Entscheidung.
  • Mikromanagement: Kontrolle ersetzt Vertrauen, Tempo sinkt, Kreativität erstickt.
  • Delegationsangst: „Niemand macht es so gut wie ich.“ Ergebnis: Überlastung und Engpass-Organisation.
  • Busywork statt Impact: To-do-Listen voll, Wirkung leer – Hauptsache beschäftigt, um das Risiko nicht spüren zu müssen.

Wenn diese Muster dominieren, ist es allerhöchste Zeit, den Stier bei den Hörnern zu packen und die Angst aktiv zu adressieren.

 

Der Weg führt durch die Angst, nicht darum herum

Das Wort „Überwindung“ macht es deutlich: Man kann Angst nicht „umgehen“. Man kann sie auch nicht einfach abstellen wie ein störendes Geräusch. Sie will durchschritten werden – der einzige Weg führt also durch sie hindurch. Praxisnah heißt das:

  • Gezielte Konfrontation: Wer Angst vor Reden hat, redet – zuerst vor drei Personen, dann vor zehn, dann vor hundert.
  • Aktive Konfliktlösung: Wer gemobbt wird oder systematisch unter Druck steht, handelt: Dokumentieren, Verbündete suchen, Grenzen setzen, Entscheidungen treffen.
  • Bewusste Risikoentscheidung: Wer vor einer großen Weichenstellung zurückschreckt, darf durchaus innehalten…, um dann um so entschlossener zu entscheiden – klar, begründet, mit definierten Überprüfungspunkten.

Jedes bewusste Durchschreiten der Angst stärkt Ihre Selbstwirksamkeitsüberzeugung – eines der wichtigsten Assets für Ihre Resilienz und Lebensenergie.

 

Die Qualität Ihrer Fragen entscheidet

Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum und der wird durch unsere Fragen ausgefüllt. Diese Fragen formen unsere Wahrnehmung – und damit unsere Möglichkeiten.

  • Gute Fragen,  öffnen unsere Handlungsräume, z.B.: „Was ist mein nächster wirksamer Schritt?“, „Welche Ressourcen kann ich aktivieren?“, „Woran würde ich in 14 Tagen merken, dass es besser wird?“
  • Schlechte Fragen verengen, z.B.: „Was könnte alles schiefgehen?“, „Warum passiert das immer mir?“, „Was denken die anderen?“

Risiko-Fragen sind sinnvoll – aber nur als Teil eines größeren Fragensets. Wenn sie allein dominieren, erzeugen sie Starre. Hochleister brauchen Fragen, die Energie mobilisieren statt abziehen.

 

Executive-Tools: Bessere Fragen in der Praxis

Ersetzen Sie typische Angstfragen durch wirksame Fragen der Selbstführung:

  • „Was, wenn ich scheitere?“ ==> „Was lerne ich selbst im Worst Case – und was ist mein Exit-Szenario?“
  • „Wie verhindere ich jeden Fehler?“ ==> Welches Fehlerniveau ist angesichts der Chance verantwortbar?“
  • „Was denken die anderen über mich?“ ==> Welche Wirkung will ich erzielen – und welche Botschaft braucht es dafür?“
  • „Soll ich A oder B?“ ==> „Welche Kriterien sind relevant, und welcher Weg passt zu meinen Werten und Zielen?“
  • „Wie halte ich alle Risiken klein?“ ==> „Welche 20% Risiko bestimmen 80% des Ergebnisses? – und wie manage ich genau die?“

 

Werte als inneres Navigationssystem

Wenn Angst laut wird, braucht es mehr als alles andere einen inneren Kompass! Wertebewusstsein ist dieser Kompass. Wer sein „Wozu?“ (manche sagen auch „Warum?“) kennt, hat eine signifikant bessere Chance auch unter Unsicherheit souverän zu entscheiden und Druck besser auszuhalten.

Mini-Übung (10 Minuten):

  1. Notieren Sie spontan 8-10 Ihrer wichtigsten Werte (z.B. Verantwortung, Exzellenz, Fitness, Freiheit, Familie, Wirksamkeit, Loyalität).
  2. Streichen Sie diese Werte auf 5 zusammen.
  3. Ordnen Sie diese im Ranking 1 – 5.
  4. Schreiben Sie zu den Top-3 je einen Satz: „Ich lebe Wert X, indem ich …“ (konkret, beobachtbar).
  5. Leiten Sie eine Wenn-Dann-Regel ab: „Wenn Entscheidung mit hohem Risiko, dann prüfe zuerst Wert 1-3, danach Zahlen und Szenarien.“

Bewusste Werte schaffen Klarheit, stärken Rückgrat – und relativieren Angst!

 

Entscheidungen in Unsicherheit: praktikable Heuristiken

„Es ist nichts so praktisch wie eine gute Theorie“ hat der Begründer der modernen Sozialpsychologie, Kurt Lewin, einmal gesagt. Den Satz habe ich einst im Studium gehört, aber die Auseinandersetzung mit Theorie und Praxis haben mich im Verlauf der Jahrzehnte immer besser erkennen lassen, wie Recht er hatte. In diesem Bewusstsein darf ich Ihnen nun drei praxiserprobte Heuristiken vorstellen:

  1. Die 70%-Regel: Treffen Sie Entscheidungen, wenn Sie etwa 70% der relevanten Informationen haben. Der Preis für 100% ist oft zu hoch: Zeitverlust, Momentumverlust, Chancenverlust.
  2. Ein- oder Zwei-Wege-Entscheidung: Ist die Entscheidung reversibel? Dann entscheiden Sie schneller und lernen Sie unterwegs. Ist sie irreversibel? Dann erhöhen Sie die Qualität der Vorbereitung – aber entscheiden Sie dennoch.
  3. Commitment mit Checkpoints: Legen Sie vorab fest, wann Sie überprüfen, ob die Entscheidung trägt oder nicht. Und auch, welche Signale eine Anpassung erforderlich machen.

Auf diese Weise bewirkt die Angst statt eines „Stopp!“ ein „Prüfe – und handle!“

 

Risiko klar sehen: Premortem und Pre-Parade

Angst verzerrt häufig Risiken. Zwei zusammengehörende Gegenmittel, um solchen Verzerrung zu begegnen:

  • Premortem: „Stell Dir vor, das Projekt ist gescheitert. Was waren die drei Hauptgründe?“ Danach: konkrete Gegenmaßnahmen definieren.
  • Pre-Parade: „Stell Dir vor, das Projekt ist ein Erfolg. Welche drei Bedingungen haben den Unterschied gemacht?“ Danach: diese Bedingungen proaktiv sicherstellen.

Ergebnis: realistische Wahrnehmung, klare Prioritäten, weniger diffuse Angst.

 

Energie-Management: Biologie schlägt Willenskraft

Wer mit hoher Verantwortung unterwegs ist, benötigt Energie wie ein Leistungssportler. Nun hat die Angst nicht „nur“ kognitive, sondern auch physiologische Wirkungen. Drei einfache, wirksame Praktiken:

  1. Atem-Fokus (90 Sekunden): Vier Sekunden ein-, sechs Sekunden ausatmen. 10 bis 15 Atemzüge reduzieren Stressreaktionen spürbar und schaffen Raum zu entspanntem und gleichzeitig fokussiertem Denken.
  2. Somatische Markierung: Aufmerksamkeit kurz in den Körper lenken (Füße am Boden, Schultern und Kiefer entspannen). Benennen Sie das Gefühl leise: „Ich spüre Druck/Unsicherheit.“ Benennen dämpft.
  3. Bewegung in Mikrodosen: 2-3 Minuten zügiges Gehen, Treppen steigen, Dehnen. Bewegung metabolisiert Stresschemie – danach sind Entscheidungen klarer.

Diese Mikromaßnahmen sind keine überflüssigen „Zeittotschlag-Aktivitäten“ sondern wirkungsvolle Selbstführungs-Tools.

 

Mut als Routine: kleine Experimente, große Wirkung

In gewisser Weise trainiert man Mut wie einen Muskel: progressiv. Setzen Sie statt auf die eine große Mutprobe auf Mut-Experimente:

  • 2-Minuten-Mutakt: Ein kurzes, unangenehmes Telefonat führen. Eine klare Grenze kommunizieren. Eine Bitte aussprechen.
  • 5-15-30-Experiment: 5 Minuten Struktur (Plan), 15 Minuten Umsetzung, 30 Minuten Review mit Learnings.
  • Courage-Budget: Jeden Tag eine kleine Handlung, die Sie minimal ängstigt und maximal weiterbringt. Dokumentieren – und wöchentlich feiern.

Konstanz schlägt Heldentum!

 

Check-In: Ist meine Angst gerade nützlich?

Drei schnelle Prüffragen für den Alltag:

  1. Signal oder Sirene? Warnt mich die Angst vor einem realen, messbaren Risiko – oder nur vor Gesichtsverlust?
  2. Lerne oder vermeide ich? Führe ich gerade eine Handlung aus, die mich näher an die Lösung bringt – oder produziere ich Beschäftigung?
  3. In welcher Rolle handle ich? Als Steuermann (Werte, Ziele, Verantwortung) oder als Passagier meiner Gefühle?

Wenn zwei Antworten ungünstig ausfallen: kurz stoppen, atmen, bessere Frage stellen, nächsten Schritt definieren.

 

Vorsicht vor der Gegenfalle: Furchtlosigkeit ist kein Heldentum!

Es gibt auch die andere Seite: „Ich habe keine Angst.“ Nicht selten ist das schlicht Taubheit gegenüber Risiken – oder Eitelkeit. Furchtlosigkeit kann destruktiv sein: unnötige Risiken, Blindheit für Feedback, Übermut. Kalibrierter Mut ist das Ziel: handlungsstark und risikobewusst!

 

Fazit: Angst als Energie transformieren

Angst ist weder Feind noch Freund – sie ist eine Kraft, die geführt werden will. Für Hochleister heißt das: Angst akzeptieren, prüfen, dosiert durchschreiten. Mut entsteht nicht in der Illusion von Sicherheit, sondern im Handeln unter Unsicherheit.

Wer seine inneren Fragen klug stellt, seine Werte als Kompass nutzt und mit einfachen Routinen Entscheidungsfähigkeit trainiert, verwandelt Angst in Lebensenergie. Diese Energie wirkt doppelt: nach innen als Klarheit und Stabilität, nach außen als Vertrauen und Orientierung. So wird Angst nicht zum Steuermann – sondern zum verlässlichen Signal auf dem Weg zu wirksamem Handeln.

Markus Frey, Köln
info(ät)stressfrey.de