Als der seit mehr als zwei Jahrzehnten unter dem Label „Zeitmanagement-Papst“ bekannte Lothar Seiwert im vergangenen Herbst sein Buch „Ausgetickt“ veröffentlichte und den Abschied vom klassischen Zeitmanagement verkündete, erntete er neben vielerlei Zustimmung auch so manche Kritik. Kritik, die sich vor allem an den Kernaussagen entzündete, dass für das Stresserleben und die zunehmende Ausbreitung des Burnoutsyndroms sehr wesentlich die (aus welchen Gründen auch immer) mangelhafte Selbstbestimmung der Betroffenen verantwortlich sind. Zu dieser Selbstbestimmung gehört nach Seiwerts Verständnis auch die Aufgabe, dem Leben im Allgemeinen und der Arbeit im Speziellen einen Sinn verleihen zu können. Das Verrückte dabei: diese Sachverhalte sind in der Fachwelt schon seit Jahren und Jahrzehnten bekannt, fallen in der öffentlichen Diskussion aber fast komplett unter den Tisch.


Zwei paar Schuhe: Burnout und körperliche Erschöpfung

Die Kritik an Seiwerts Thesen zu Selbstbestimmung und Sinnfindung als wesentliche Aspekte des Stresserlebens und der Burnoutgefährdung eines Menschen hat teilweise auch mit der inflationären Verwendung des Begriffs „Burnout“ zu tun. Immer wieder wird zum Beispiel auch ein rein körperliches Überziehen als „Burnout“ bezeichnet, was sachlich nicht korrekt ist. Zwar können selbstverständlich auch die Missachtung von körperlichen Bedürfnissen zu schwerwiegenden Konsequenzen bis hin zu Herzinfarkt und Schlaganfall führen. Trotzdem ist es nicht das gleiche wie ein Burnout, der vor allem von einer Antriebs- und psychischen Energielosigkeit geprägt ist. Diese mangelnde Unterscheidung prägt auch die Kritik an „Ausgetickt“, die Seiwert vor allem vorwirft, die körperliche Überlastung und das Ausgeliefert sein vieler Menschen nicht ausreichend ernst zu nehmen.

 

Der Mensch ist mehr als nur sein Körper

Es ist für unsere Belastungsfähigkeit durchaus sehr bedeutsam, wie wir mit unserem Körper umgehen. Wenn wir ihm ausreichend Bewegung gönnen, uns gesund ernähren und auch die Erholung zukommen lassen, die erbraucht, sind wir einfach leistungsfähiger und halten auch „stressige“ Zeiten besser aus. Trotzdem: die entscheidenden Geschehnisse bei Stress und Burnout spielen sich im Kopf jedes einzelnen Betroffenen ab. Darauf weist Seiwert zu Recht hin. Die persönliche Haltung zu den Geschehnissen des Lebens, die Bereitschaft, die Verantwortung zu übernehmen, um diese Geschehnisse zu meistern und die Fähigkeit, das eigene Leben mit einem Sinn zu verbinden sind entscheidende Faktoren bei Stress und Burnout.

 

Wo Seiwert irrt

An einer Stelle irrt Seiwert allerdings. Er ist keineswegs so allein, wie er offenbar meint. Führende Stress- und Burnoutforscher weisen seit Jahren und Jahrzehnten auf diese Sachverhalte hin. Angefangen bei Viktor Frankl, der schon Jahrzehnte bevor der Burnoutbegriff eingeführt wurde, die damit verbundenen Krankheitsbilder beschrieben und die Logotherapie entwickelt hat, über Herbert Freudenberger, den „Erfinder“ des Burnoutbegriffs, bis hin zu Thomas Bergner, der in seinem grundlegenden Werk „Burnout-Prävention“ den Themen „Eigenbestimmtheit“ und „Sinnannäherung“ ebenfalls einen zentralen Platz zuweist. Auch viele weitere Experten haben sich schon ähnlich geäußert und die zentrale Bedeutung der geistigen Einstellung unterstrichen. Nur: sie werden leider kaum gehört und ihre Argumente von Klagen über zu hohe Leistungsanforderungen und arbeitsorganisatorische Rahmenbedingungen weit in den Hintergrund gedrängt (womit nicht gesagt ist, dass dies alles bedeutungslos ist!).

 

Fazit

Seiwert ist zwar keineswegs der erste, der auf die Bedeutung Selbstbestimmung (bzw. den Grad der Fremdbestimmung) in Bezug auf Stressmanagement und Burnoutprävention hingewiesen hat. Mit seinem Buch „Ausgetickt“ ist ihm aber ein bedeutender Zwischenruf gelungen, der die öffentliche Diskussion stark bereichert. Es ist zu hoffen, dass „Ausgetickt“ nicht nur viele Leser findet, sondern vor allem Menschen, die seine Impulse ganz konkret in ihren eigenen Alltag übersetzen.

Markus Frey
stressfrey(at)gmail.com